Wir brauchen besondere Orte

Ich bin Domfrau Brigitte und begrüße Sie hier in der Votivkapelle. Mein Motiv für die Wahl dieses Ortes als Erzählraum hat mit dem soeben kurz angespielten Stück „Locus iste“ zu tun. Es wurde anlässlich der Einweihung der Votivkapelle 1869 von Anton Bruckner komponiert.
Viele kennen „Locus iste“, weil das Stück mittlerweile zum Standardrepertoire vieler Chöre gehört.
Locus iste, a deo factus est (Dieser Ort, ist von Gott geschaffen)
Inestimabile sakramentum (Ein unschätzbares Geheimnis/Zeichen)
Irreprehensibilis est. (Kein Fehl ist an ihm)
Es ist schon ein großartiges Zeugnis für einen Ort, als von Gott gegeben bezeichnet zu werden. Der Votivkapelle steht das zu, aber ich bin mir sicher, es gibt andere Orte, die diese Zusage auch verdienen. Ich vermute, auch Sie kennen Orte, die etwas Himmlisches, etwas Geheimnisvolles und Besonderes an sich haben, weil Sie damit besondere Ereignisse Ihres Lebens verbinden.
Landauf, landab stehen Kapellen, Marterl und Kirchen, die deshalb dort stehen, weil Menschen genau mit diesem Ort eine besondere Erfahrung ihres Lebens verbinden. Es sind Orte, die an Ereignisse erinnern von denen Menschen im Nachhinein sagen: „Da war Gott mit im Spiel, das war nicht nur Menschenwerk“ z.B.: die Heilung nach schwerer Krankheit, Rückkehr aus dem Krieg, Versöhnung.
Für mich ist 2014 die Linzer Landstraße für ein paar Stunden zu so einem besonderen Ort geworden, wo ich im Nachhinein sage: da war Gott mit dabei. Hunderte Sängerinnen und Sänger aus österreichischen Chorgemeinschaften haben „Locus iste“ als Flashmob dargeboten. Es war an einem Samstag, früher Nachmittag. Die Geschäfte hatten offen, Menschen bevölkerten die Landstraße. Hunderte Chorsänger*innen reihten sich zwischen Taubenmarkt und Mozartkreuzung beidseits parallel der Straßenbahngeleise auf. Ihre Chorleiter*innen standen ihnen gegenüber auf Malerleitern. Die Straßenbahnen wurden angehalten. Dann:
Es war ein Gänsehautmoment: Die Chöre begannen zu singen, Leute blieben stehen, horchten und überraschend viele sangen mit. Es wurde rundherum still. Es war ein erhebender, heiliger Moment der Unterbrechung. Ich dachte bei mir: Die Botschaft ist angekommen! „Das ist ein von Gott geschenkter Ort. Ein wunderbares Zeichen“ Ich weiß nicht, ob sich die Sänger*innen bewusst waren, was sie da dem Ort und den Menschen in ihrer Geschäftigkeit zusagten: Inmitten von Einkauf, Schlendern, Hektik, lockerem Zusammensitzen, zufälligen Begegnungen, Freude, über neu Erworbenes, usw.. , in jedem dieser Augenblicke können sich Himmel und Erde berühren, kann Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit erfahrbar werden. Die Unterbrechung tat seine Wirkung. Leute sind länger stehen geblieben, sind ins Gespräch gekommen und vielen war die Freude ins Gesicht geschrieben. Vielleicht hat der Flashmob Situationen gewandelt, Perspektiven geweitet – wer weiß?
Landstraße als möglicher Ort der Heilserfahrung. Das war 1869 noch nicht vorstellbar. Damals dachte die Kirche noch: Außerhalb der Institution Kirche kein Heil. Diese Haltung wurde im II.Vatikanum aufgegeben und gewandelt in die Überzeugung: Gott wählt die Welt und die Menschen als seinen Ort des Heilswirkens. Die Kirche soll durch ihr Wirken in der Welt Zeichen dafür sein.
Orte sind entscheidend und an jedem Ort kann sich für uns etwas entscheiden. Unsere Identität, also wer wir sind, entscheidet sich nicht nur an dem, was wir tun, was wir können und welchen Namen wir haben. Wer wir sind, hängt wesentlich davon ab, wo wir sind. Welche Orte sind unsere Orte und welche sind es nicht. Wir spüren sehr genau, wo wir sein können/wollen und wo nicht. Jeder Mensch braucht Orte, an denen er/sie Mensch sein und Mensch werden kann. Dazu braucht es „Alltagsorte“ und Orte des Außeralltäglichen, die uns ab und zu herausheben aus den Mühlen des Alltäglichen und himmelwärts ausrichten. Es gehört zu unserem Menschsein dazu, über uns hinauszugehen. Als Geschöpfe Gottes tragen wir Gottgegebenes in uns, das gelebt und entfaltet werden will. Wenn wir in uns und ausschließlich in Alltäglichkeit gefangen sind, ist Menschsein in Freiheit nicht oder nur schwer möglich. Besondere Orte können uns helfen, aus alltäglichen Verstrickungen herauszutreten. Vielleicht haben Sie so einen „Fluchtort“, den Sie aufsuchen und nachher sagen: „Jetzt habe ich wieder eine andere Perspektive, jetzt sehe ich mich wieder hinaus“.
Kirchen können solche Orte sein, die zwar zum Alltag gehören und trotzdem Besonderes in sich tragen. Sie erinnern Glaubensgeschichten, führen uns in eine „andere Welt“, richten uns himmelwärts auf und können zu Neuanfang wandeln.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie für sich solche besonderen, von Gott gegebenen Orte entdecken und immer wieder aufsuchen können, um sich selbst immer mehr als von Gott gegebenen Ort zu entdecken. Denn letztlich kann die Botschaft von Locus iste jedem Menschen zugesagt werden: Du bist ein von Gott gegebener Ort. Ein wunderbares Zeichen. Das gilt es immer wieder neu zu entdecken, zu füllen und sich daran zu freuen.
Mag. Brigitte Gruber-Aichberger